WEGE DURCH DAS LAND

Theaterstück „Schwestern“

Das Literatur- und Musikfestival „Wege durch das Land“ präsentierte das Theaterstück „Schwestern“, das Hörmann als wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um „Inklusion“ finanziell unterstützt hat. Im Gespräch mit Angela Winkler und ihrer Tochter Nele, zwei Protagonistinnen des Theaterprojekts, wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung das Stück für den Umgang mit Behinderungen haben kann. 

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Angela Winkler und ihrer Tochter Nele über Liebe, Nadelöhr und Sonne

Wir unterhalten uns mit Angela Winkler und ihrer Tochter Nele im Hof des Theaters am Schiffbauerdamm, in dem Tische und Stühle der Theaterkantine unter schattigen Bäumen stehen. Die Sonne scheint. Es geht um „Schwestern“, ein Theaterprojekt mit den behinderten Schauspielerinnen Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredsuß vom Berliner RambaZamba-Theater. In den Nebenrollen: Neles Bruder Tammo Winkler sowie ihre Mutter Angela Winkler.

„Schwestern“ war schon in Berlin, Luxemburg und Lichtenstein zu Gast. Am Abend tritt Angela Winkler im Schiffbauerdammtheater als Jenny in Brechts „Drei Groschenoper“ auf. Nele Winkler sagt, dass sie das Brecht-Stück gut kennt. Ihre Mutter will wissen, ob sie heute Abend dabei sein wird. Nele ist sich nicht sicher, weil sie es schon so oft mit der Mutter gesehen hat. Sagt sie und lacht. Tochter und Mutter vereint die Leidenschaft für die Bühne.

Im Gespräch mit den beiden geht es um Nele Winkler als Schauspielerin, um Angela Winklers Rolle im Stück und im Leben ihrer Tochter. Es geht um die Selbstfindung junger Frauen, um ihre Loslösung vom Elternhaus, beides Hauptthemen von „Schwestern“. Es geht um Behinderung auf der Bühne und im Leben. Auch von Tschechows Stück „Drei Schwestern“ ist die Rede. Darin sehnen sich die Geschwister Mascha, Irina und Olga und ihr Bruder Andrej danach, die lähmende russische Provinz für ein aufregendes Leben in der Hauptstadt Moskau einzutauschen.

Anders als bei Tschechow sehnen sich Nele, Juliana und Rita nicht mehr nach Veränderung. Diese ist bereits eingetreten. Die drei Frauen verlassen ein wohlbehütetes Elternhaus und stellen sich in einer „Wohngemeinschaft“ dem selbstbestimmten Leben – eine aktuelle, autobiographische Situation für Nele und Angela Winkler, mit der das Publikum konfrontiert wird.

Nele fällt es im Gespräch leichter, durch Bezüge auf das eigene Erleben Auskunft zu geben oder vorzuspielen, was sie meint. Mit ihrer fröhlichen Art bestimmt sie Gang und Stimmung des Gesprächs, das rasch den Charakter eines Austausches unter Freunden annimmt.

Darf ich Dich… Entschuldigung, Sie, zuerst etwas Persönliches fragen? Wie kommt es zu dem Namen „Nele“? Was bedeutet er?

Nele: Sie können „Sie“ sagen.

Angela: Ich wollte sie eigentlich nicht Nele nennen sondern Liuba oder Lou. Mein Vater war Arzt. An der russischen Front lernte er eine Liuba, eine russische Ärztin kennen, von der er erzählte. Sie soll wunderbar gewesen sein. Liuba bedeutet „Liebe“ oder „Liebende“ auf Russisch<s>.</s>  Ich dachte: Wenn ich ein Töchterchen kriege, dann nenne ich sie Liuba. Dann kam Nele und sie war sehr klein. Nele heisst auf Holländisch „Nadelöhr“. Man hat als Mutter das Neugeborene im Arm und dabei fallen einem verschiedene Namen ein. Irgendwann bleibt dann ein Name übrig. Und das war Nele.

Wir wollen ja über ihre Rolle in dem Stück „Schwestern“ sprechen. Worum geht es dabei?

Nele: Das ist eine gute Frage. Ich bin beim RambaZamba-Theater. Da haben wir schon viele Stücke gespielt. Zurzeit proben wir „Philoktet“. Da spiele ich mit Jakob.

Die drei Schwestern werden in dem Stück von drei Schauspielerinnen gespielt, die mit dem Down Syndrom zur Welt gekommen sind. Erfährt das Publikum bei dem Stück etwas über das Down Syndrom?

Nele: Es gibt Leute mit Down Syndrom, die eine Brille tragen. Nicht nur. Manchmal. Es gibt auch welche, die nicht gut rechnen können. Ich kann das noch nicht richtig. Dafür kann ich anderes gut, z. B. Buch lesen oder Musik hören. In „Schwestern“ tanzen wir auch. Das haben wir mit Davide Camplani gemacht. Texte mussten wir auch auswendig lernen, mit Angela zusammen.

Wer von euch kann besser auswendig lernen?

 

Nele: Ich und Juliana. Die Beste bin ich. Wenn Angela kommt, fange ich an zu tanzen. (Macht mit den Armen unterschiedliche Bewegungen) Rita macht so, Juliane macht so. Ich mache so. Ich bin Mascha, die Sonne. Dazu mache ich solche Bewegungen.

Angela: Für Nele ist das Down-Syndrom keine Frage. Ihr ist das ganz egal. Das beschäftigt sie nicht. Mit Juliana kann man eher über abstrakte Begriffe sprechen. Nele ist da anders. Nele ist ohne diese Fragen aufgewachsen.

Nele: Greifen und Bild sein.

Angela: Ja, Greifen und Bild sein – das ist Nele.

Nele: Kraft zu sein.

Angela: Ich finde, jeder kann was anderes besser. Lies doch mal den Traum, den du in dem Stück vorträgst.

Nele: (liest aus ihrem Notizheft): „Es war einmal in Frankreich gewesen. Da kam Lasse und hat Wischmedi gekocht. Margarita Breu sitzt am See herum, auf der Wiese mit einem Topf. Da kommt Ameli mit Wischmedi in der Hand. Tammo sagt zu Amelie: Du nicht. Amelie will immer Margarita haben und Margarita läuft hinter Amelie her. Amelie hat eine rote Gabel in der Hand. Sie macht die Gabel im Bett fest. Amelie läuft noch drei Meter hoch und läuft weiter bis ans Ende. Und ich träume weiter. Mehr merke ich nicht. Meine Ohren sind kaputt. Ich werfe die Brille weg und das Wiwili werfe ich auch weg. Ich stürzte runter und verletzte mich am Knie. Gregor sagt zu Amelie: Was ist mit dir? Sie sagt: Mein Knie tut weh. Gregor macht Amelie eine Knickbar. Und Amelie geht mit Krücken zu ihren Eltern. Ich bleibe mit Gregor zurück.

Angela: Ich schreibe auf, was Nele so sagt. Sie kommt zum Beispiel vom Zahnarzt auf die Probe und sagt: „Ich hatte eine Erfüllung.“ Ich habe dem Regisseur ein Heft mit Neles Texten gegeben. Er mischt sie mit Text von Tschechow. So kommt es zu „Mein Zimmer hat Sehnsucht.“ Das ist Neles Qualität, wenn ich das als Mutter mal sagen darf. 
Der Regisseur kennt die drei Schauspielerinnen ja durch das Stück „Liliths Return“ (aufgeführt u.a. bei „Wege durch das Land“). Rita bewegt sich ganz anders als Juliana. Nele ist wahnsinnig fleißig und lernt Texte. Sie spielt auch gut Trompete. Sie liebt das Trompetenspiel.
Ich habe eine wunderbare Aufführung von Christoph Marthaler (Theatermacher, Komponist, Regisseur) in Wien gesehen: „Schutz vor der Zukunft“, das vom Euthanasieprogramm im Dritten Reich handelt. Es geht dort um die Vorkommnisse in der Wiener Heil- und Pflegeanstalt «Am Steinhof», in der auch Kinder umgekommen sind. In dem Stück spielen die Schauspieler Blasinstrumente, von der kleinsten Trompete bis zur Bass Tuba. Dadurch kam ich auf die Trompete für Nele.
Sie hat jetzt regelmäßig Trompetenunterricht. Ihre Lehrerin hat in „Schutz vor der Zukunft“ mitgespielt. Wir drei sind auch gemeinsam aufgetreten, als Nele und ich aus Andersens Märchen gelesen haben (Wege durch das Land, 2.6.2012). Das Trompete spielen ist für Nele wichtig. Es stärkt die Lunge. Sie bekommt ja leicht Bronchitis. Es hat ihr sehr geholfen, die Krankheit in den Griff zu kriegen.

Schauspielen als Therapie?
 

Angela: Ja, das gilt für alle Schauspieler. Die haben ihre Glücksgefühle. Das freut ja jeden Menschen.

Haben Sie eine Lieblingsrolle?
 

Nele: Ja,….

Angela: Du hast doch die Rolle der Polly (aus der Dreigroschenoper) ganz gelernt.

Nele: Ja, früher mal.

Angela: Es gab sogar Angebote. Gisela Hoehne vom RambaZamba-Theater aber auch Klaus Pohl wollten das mit ihr machen. Auch für „Romeo und Julia“ war sie mal im Gespräch.


Sie könnte doch mal Tatort-Kommissarin werden?
 

Angela: Sie könnte meine Assistentin spielen. Sie hat so ein spontanes Feeling und liegt damit immer richtig. Wir beide, das fände ich toll. Oder umgekehrt, du bist die Chefin und ich bin deine Assistentin. Du bist die, die immer den richtigen Riecher hat.
 

Wer könnte eigentlich noch in die „Wohngemeinschaft“ einziehen, in der Sie jetzt leben?
 

Nele: Ich hätte gern, dass Juliana einzieht. Das wünsche ich mir.


Könnte auch ich in die WG einziehen?
 

Nele: Könnte auch sein.

Angela: Ich würde gern mehr in unserem Haus in der Bretagne sein. Nele in einer Wohngemeinschaft, sie ist dann nicht mehr zuhause. Das passt gut, dachte ich. Man muss das natürlich organisieren. Alleine wohnen ist für Nele schwierig. Sie ist zwar selbstständig, aber jemand muss für sie da sein. Sie hat ja auch einen Herzschrittmacher.
Nele ist ganz anders als viele aufgewachsen. Bei uns ist alles frei……… Nele hat alles mitgemacht. Ich habe sie wie alle anderen Kinder immer mitgenommen.
Mit der „Lebenshilfe“ habe ich also eine WG für Theaterleute organisiert. Die Idee war, dass Schauspieler vom RambaZamba-Theater auch zusammen wohnen. Zora und Sascha waren in der WG. „RambaZamba“ ist ja eine große Truppe. Sebastian ist ausgezogen. Ein anderer, der kein Down- Syndrom hat, ist eingezogen. Christian ist kein Schauspieler. Der malt. Nele malt wunderbar. Zurzeit hat die WG sechs Bewohner, von denen vier Schauspieler des RambaZamba-Theaters sind.

Nele: Wir sind drei Männer und drei Frauen, Zora, ich und Steffi. Hagen macht den Garten.

Angela: Wir hatten auch überlegt, dass jemand einzieht, der ganz für sich selbst sorgen kann, ein Student z. B.


Welche Bedeutung hat das Down-Syndrom beim Theaterspielen, auf der Bühne?
 

Angela: Wie unterschiedlich Menschen sind, kann man mit Schauspielern, die das Down-Syndrom haben, besonders gut zeigen. Das Hora-Theater in Zürich arbeitet wie das RambaZamba-Theater in Berlin. Das ist für unsere heutige Welt, in der man in eine Norm gedrängt ist, schön. Jeder muss parieren, muss alles können. Deswegen ist es so stressig heutzutage. Im Theater für behinderte Menschen kann man sich mal gehen lassen. Der eine kann ein Bein nicht heben. Dafür kann er den Arm heben. Da werden einem die Augen geöffnet.
Diese Form von Theater ist frei raus. Deswegen ist das Trompetenspiel von Nele so schön. Frei raus. Das geht nicht wie beim Klavier über die Hände ins Klavierspielen. Das hat Nele vorher gemacht. Sie musste dann wählen Klavier oder Trompete. Dass sie die Trompete gewählt hat, war richtig. Das kommt direkt raus. So etwas ist beglückend zu sehen. Deswegen schaue ich mir das Theater behinderter Menschen so gern an.
Jerome Bell hat in seiner Arbeit und seinen Aufführungen mit behinderten Schauspielern großen Erfolg. (Jerome Bell „Disabled Theater“ & Theater Hora). Er zeigt, was diese Menschen für eine Kraft haben! So wird auch „Schwestern“ und das Theater von Gisela Höhne erlebt. (Intendantin des RambaZamba-Theaters).
Ich glaube………..wenn man das Schöne im Leben sucht, dann findet man es auch. Ich habe die Schönheit von Nele gesucht……….


Warum muss ich es da besonders suchen? Muss ich dafür dem professionellen Theaterspiel Behinderter zusehen? Wohin führt es mich?
 

Angela: Wenn jemand mit einer Behinderung wie Herr Quasthoff z. B. singt, dann vergesse ich die Behinderung. Dann höre ich nur der Stimme zu. Wenn jemand Poesie in sich hat, dann ist diese größer als die Behinderung. Ich gehe ganz auf die Besonderheit seines Spiels ein und vergesse, was mich sonst vielleicht stört.
Es ist immer der Blick, mit dem man die Dinge anschaut. Das Theater hat die Fähigkeit, das zu zeigen. Für meinen Beruf als Schauspielerin habe ich zudem viel bekommen. Auch deswegen sehe ich es mir so gern an.

Gesprächszusammenfassung Stefan Heiner, 1.5.2015