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Bauten bilden

Die Formung des Menschen durch Architektur

Nicht nur Schulen dienen der Bildung. Mit Architektur sollten Menschen und Gesellschaften seit jeher gebildet werden: Deshalb einige Betrachtungen über den Sinn des Bauens für die Bildung – und Bildungsbauten abseits der darauf spezialisierten Bauformen.

Bitte verzeihen Sie die Frage: Sind Sie gebildet? Ganz ge­wiss sind Sie das. Und außerdem: Wer würde schon frei­willig zugeben, dass er ungebildet sei – was immer dies auch bedeutet. Bildung gehört – zumindest im deutschsprachigen Kulturraum – zur Grundausstattung des Bürgertums. Das sprichwörtliche Bildungsbürgertum definiert sich sogar vorrangig durch ihr angeeignetes Wissen. Und dessen Wert wird von diesen Bildungsbürgern angeblich sogar höher ein­geschätzt als jeder monetäre Reichtum.

Ehemalige Hauptgebäude der Universitätsbibliothek von Paul Bonatz von 1912.
Der Neubau der Staatsgalerie von James Stirling wurde 1984 eröffnet.

Was Bildung bedeutet
Doch was ist denn eigentlich Bildung? Im Sinne Humboldts soll es die Maßeinheit sein, mit deren Hilfe der Über­deckungs­­grad des eigenen Wissens mit der Realität bestimmt wird. Oder: Je mehr Wissen angehäuft wurde – also je gebildeter der Mensch ist –, desto größer soll die Fähigkeit sein, Verständnis für die Wirklichkeit, deren Ursachen und Zusammenhänge zu entwickeln. Im philosophischen Sinne dient diese Bildung als Voraussetzung dazu, wahre Erkenntnisse zu gewinnen.

An dieser Stelle beginnt aber schon das erste Problem. Denn um welche Realität soll es denn gehen, wenn mittels Bildung die Wirklichkeit erkannt werden soll? In den Zeiten sogenannter „alternativer Fakten“ kann es bereits problematisch werden, den Kern des technisch-naturwissenschaftlichen Wissens zu definieren. Der „Homo Faber“, der schaffende Mensch in seiner ingenieurswissenschaftlichen Ausprägung, galt bis vor Jahren noch als Endresultat einer Bildungsentwicklung, die sich eher weg vom geisteswissenschaftlichen Ansatz des Bildungsbürgertums und vielmehr hin zum naturwissenschaftlichen Spektrum entwickelte. In theologischer und geisteswissenschaftlicher Weise mit eurozentristischer Perspektive war Bildung bis zum Beginn der Neuzeit identisch mit christlicher Religion, und die gelebte Realität wurde mittels einheitlicher religiöser Erkenntnisse entschlüsselt – gelegentliche häretische Abweichungen seien hier ausgenommen.

Und für alle Disziplinen galt: Bildungsbauten gab es außerhalb von Klosterschulen nicht – und entsprechend auch keine architektonische Spezialform. Weil die Globalisierung noch nicht stattgefunden hatte, bestanden andere religiöse Realitäten mit anderem Bildungswissen quasi außerhalb des europäisch-christlichen Sichtfeldes und waren damit kaum existent.

Bildung ohne Bildungsbauten
Noch früher und zu Zeiten von Sokrates benötigte Bildung noch nicht einmal ein eigenes Dach über dem Kopf, erst recht kein derart architektonisch überhöhtes wie im Falle der Berliner Bauakademie Karl Friedrich Schinkels oder der Tübinger Eberhardt-Karls-Universität von Paul Bonatz. Spezielle Bauten zur Vermittlung von Bildung waren viel­mehr gänzlich unbekannt. Der griechische Gelehrte unterrichtete stattdessen unter freiem Himmel. Die Athener Agora, der zentrale öffentliche Platz jeder griechischen Polis, war ihm genug, um allen, die ihm zuhören wollten, sein Weltverstehen durch Dialog und Fragen zu vermitteln.
Sein Schüler und Nachfolger Platon wurde dagegen zum Urvater der Bildungsbauten. In seiner 387 vor Christus auf eigenem Grundstück außerhalb Athens errichteten Akademie (eigentlich war es nur ein Säulengang) ging es ihm vorrangig darum, Wissen von Meinung zu unterscheiden. Noch 2412 Jahre später ist dies bekanntlich ein zentrales Thema der Bildungsvermittlung – und der Ausgang bleibt nach wie vor offen. Dass Michelangelo in seinem berühmten Fresko „Die Schule von Athen“ aus Platons kleiner Bildungs-Butze einen akademischen Prachtbau machte, ist ein Vorgriff auf die kommende Bedeutung der Bildungsbauten.

Spätestens mit der Dominanz monotheistischer Religionen wurde Bildung schließlich zentrales Aufgabengebiet verschiedener Glaubensgemeinschaften – zumindest, sobald Bildung über den häuslichen Kontext hinausging. Denn was zum rein materiellen Überleben nötig war, wurde durch die Familie oder den Handwerksmeister vermittelt. Bildung war gleichbedeutend mit Erfahrung. Erst die privat betriebenen „Winkelschulen“ oder „Klippschulen“ boten dem städtischen Bürgertum elementarstes Wissen in Lesen und Schreiben – jedoch immer noch ohne bauliche Form, da sie in ehemaligen Ladengeschäften betrieben wurden. Rechnen wurde nach der Methode des Adam Ries gelehrt.

Jüdische, christliche oder islamische Glaubensgemeinschaf­ten entwickelten hingegen eigene Institutionen und damit auch architektonische Bauformen, um dem Nachwuchs die jeweilige Weltsicht zu vermitteln und die Gesellschaft „auf Kurs“ zu halten – die einfache Jeschiwa für jüdische Jungen, die Klosterschule des europäischen Mittelalters für den Nachwuchs des jeweiligen Ordens oder die Grundausbildung des Adels. In islamischen Ländern entwickelte sich die Medresse nicht nur zum Prototyp der religiösen Ausbildung – sie wurde schon ab dem 10. Jahrhundert zu einem Höhepunkt islamischer Architektur und Prachtentfaltung, wie in Buchara oder Samarkand. Die frühen europäischen Universitäten in Bologna, Prag, Salamanca, Montpellier oder Wien konnten es an Prachtentfaltung nicht annähernd mit den islamischen Pendants aufnehmen.

Am Registan-Platz in der usbekischen Stadt Samarkand befinden sich die drei Medresen Ulugbek (links), Tillakori (Mitte) und Scherdor (rechts).
Herbert Bayer entwarf die Schrift „universum“ – ganz ohne Großbuchstaben.

Regierungserklärung
Am 28. Oktober 1969 sagte Willy Brandt in einer Regierungs­erklärung: „Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteils­fähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu er­kennen und sich dementsprechend zu verhalten.“ 380.000 junge Menschen waren damals an Hochschulen eingeschrie­ben – heute sind es 2,8 Millionen, und die Zahl der Bildungsbauten ist regelrecht explodiert. Falls Sie sich mit Ihrem Architekturbüro mit der Bauaufgabe beschäftigt haben, dann sind Ihnen die aktuellen Schlagworte und Trends geläufig. Hier soll es jedoch nicht um „offene Lern­landschaften“ gehen oder um „Cluster-Schulen“. Auch das Thema „Schul-Campus“ interessiert hier nicht und ebenso wenig das „modulare Bauen“, die „Inklusionsschule“ oder Sicherheitskonzepte, die auch die drohenden Gefahren von Amokläufen berücksichtigen. Denn Bauten für Bildung umschließen eben nicht nur das Thema Schulen. Dies wäre viel zu kurz gegriffen. Bildung – egal ob im Humboldt’schen Sinne oder nicht – findet längst an vielen anderen Orten statt. Und längst hat das deutsche Quasi-Monopol der Kultus­ministerien ausgedient. Bildung findet außerdem online statt, durch Bildungsinstitute politischer Parteien und religiöser Gruppen, durch NGOs, Influenzer und die Algorithmen sozialer Netzwerke und Medien. Und wer Menschen in diesem Bildungswettbewerb an sich und seine religiöse oder gesellschaftspolitische Weltsicht bindet, der dominiert die Welt. Umso wichtiger wird dabei die bauliche Gestaltung traditioneller, physisch vorhandener Orte der Bildung. In dieser Ausgabe der PORTAL sind deshalb vier wichtige, aber grundverschiedene Projekte zu sehen.

Zeitgemäße Beispiele
Dem durchaus traditionellen Pfad folgt das neue Gebäude des Helmholtz-Instituts in Kiel. Hier wird Meeresforschung betrieben und der wissenschaftliche Nachwuchs ausgebildet. Dass die Architektur dabei nicht mehr aus der hohen Zeit des Hochschul- und Institutsbaus stammt, ist bemerkenswert. Obwohl der reinen Forschung gewidmet und voller Labore, erlaubten sich Staab Architekten an der Fassade ein wenig Poesie. Das Reutlinger „Texoversum“ als anderes Beispiel für Bildungsbauwerke der Hochschul-Klasse geht da wesentlich weiter und will als „architecture parlante“ mit dem studentischen Nachwuchs der Textilbranche in echte Kommunikation treten. Der Schulcampus einer orthodoxen Gemeinde in Berlin will noch ganz klassisch die Inhalte des staatlichen Lehrplans und der jüdischen Religion vermitteln, wird architektonisch aber vor allem von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland beeinflusst. 70 Jahre nach der Shoa ist es vor allem eine Architektur der Sicherheit, die den Campus kennzeichnet. Denn jederzeit muss wieder mit Anschlägen gerechnet werden – auch und gerade, weil sich der Antisemitismus über Neonazis hinaus auf weitere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt hat. Zugleich will dieser Bildungsbau aber auch ein selbstbewusstes Statement einer Bevölkerung sein, die seit einem Jahrtausend Teil Deutschlands ist. Dass im Inneren allenthalben die zahlreichen Regeln eingehalten werden, an die sich Menschen jüdischen Glaubens zu halten haben (es sind tatsächlich 613), steht dabei nicht im Widerspruch zur zeitgenössischen Architektur.

Menschenformung durch Bauten
Menschen durch Bauten zu bilden ist schon lange kein staat­liches oder kirchliches Monopol mehr. Die anthroposophische Bildungslehre Rudolf Steiners umfasst alle baulichen Bereiche – auch wenn sie aktuell für die meisten nur anhand der Waldorfschulen erkennbar sind. Zwar hat Rudolf Steiner nie eine Waldorfschule entworfen oder gebaut. Die ausgeprägte Plastizität und Farbgebung der Bauten im Zentrum der Anthroposophie in Dornach wurden jedoch mindestens zu Impulsgebern der nachfolgenden anthroposophischen Bildungsbauten. Minimales Erkennungsmerkmal dieser Schulen war lange Zeit der plastisch gestaltete Fenstersturz. Gemeinsam ist allen Projekten jedoch das Ziel, nicht nur fachliches Wissen zu vermitteln, sondern Menschen und Persönlichkeiten zu formen.

Zu wichtigen Playern im Wettbewerb um die künftige Bildung der Bevölkerung wurden inzwischen die zahlreichen NGOs – die „Non-governmental organizations“, Interessenverbände, die nicht durch ein öffentliches Mandat legitimiert sind, aber dennoch ihre Interessen im Bewusstseinsbildungsprozess der Öffentlichkeit vertreten wollen. Private Stiftungen finanzieren die jeweiligen Anliegen und schaffen oft die für Verwaltung und Bildung nötigen Bauten. In Berlin entstand das sehr bemerkenswerte und in dieser PORTAL gezeigte Gebäude der Spore Initiative. Dort sollen Informationen und Werte vermittelt werden, die in der Bevölkerung die Bildung eines Bewusstseins für biokulturelle Vielfalt fördern soll. Die Architektur unterstützt dieses Anliegen auf mehrfache Weise und mit dem Ziel, die Anliegen der Initiative ins Bewusstsein der Gäste zu tragen.

Architektur ist bildungspolitisch
Das Ziel, mit architektonisch-künstlerischen Methoden neues Wissen zu vermitteln und dadurch ein neues Bildungskonzept zu schaffen, ist spätestens mit der Arts-&-Crafts-Bewegung und vor allem der Moderne zum zentralen Anliegen der Ar­chi­tektur geworden. Die Überzeugung, dass die äußeren Verhält­nisse Einfluss auf die Entwicklung des einzelnen Menschen und in der Summe auf die Gesellschaft haben, propagierte das Dessauer Bauhaus mit seinem Versuch, den „Neuen Menschen“ zu dienen.

Und dieses Versuchsfeld weitete die traditionellen Grenzen der Architektur bekanntlich maximal aus. Der Bauhaus-Typograf Herbert Bayer schaffte zu diesem Zweck dort die Groß- und Kleinschreibung ab. Und die Bauhäusler argumentierten, dass eine einheitliche Kleinschreibung die Lesbarkeit erleichtere, weil die Textzeilen nun ein gleichmäßigeres Schriftbild erhalten (tatsächlich ist das Gegenteil der Fall). Vor allem aber wurde die Groß- und Kleinschreibung als Teil eines überkommenen Systems angesehen, das es im Sinne einer modernen, rationalen, sozialistischen und egalitären Ordnung zu überwinden gelte. In politischer und sonstiger Hinsicht waren die Bauhäusler zwar selten einer Meinung, doch be­wusst gegen geltende Regeln (hier die Rechtschreibung) zu ver­stoßen, galt als Zeichen der Modernität. Dass die konsequent mit Kleinbuchstaben geschriebene Korrespondenz des Bauhauses von diversen Stadtverwaltungen als kommunistisch betrachtet und deshalb bestenfalls ignoriert (wenn nicht gar gleich im Papierkorb entsorgt) wurde, war ihnen eben ein verwaltungstechnischer Kollateralschaden.

Das Narkomfin-Kommunehaus wurde 1930 fertiggestellt und zuletzt 2020 saniert.

Neue Menschen durch neue Bauten
Die zeitgleich entstandene Werkbundsiedlung Weißenhof wurde zum Prototyp des neuen Bauens für den „Neuen Menschen“. Die Gegenreaktion dazu war die „Stuttgarter Schule“ mit Paul Schmitthenner, Martin Elsässer oder Paul Bonatz. Sie verwarf zwar wie das Bauhaus und Le Corbusier den vorangegangenen Historismus. Ihre Bauten gelten jedoch innerhalb der Moderne als Hort des Traditionalismus und ohne Ambition, mit Architektur an der Bildung eines „Neuen Menschen“ zu arbeiten. Das Bildungsziel ist eher althergebracht, und die als Gegenentwurf gleichfalls in Stuttgart errichtete „Kochenhofsiedlung“ beherbergte unter den obligatorischen Satteldächern zutiefst bürgerlich gebildete Schwaben. Bildung und Bauform waren hier bewusst identisch, und die Bildung sollte eben gerade nicht das Ziel haben, mit Architektur Menschen neu zu formen.

Die Vergesellschaftung des Menschen
Als Europas Architekten nach der bolschewistischen Oktober­revolution mit heißen Wangen gen Osten pilgerten und sich der jungen Sowjetunion als Baumeister einer neuen Gesell­schaft andienten, da ging es der russischen Gruppe OSA darum, für den neuen sowjetischen Menschen eine geeignete Architektur zu erschaffen. Konstruktivistisch war nicht nur die daraus entstehende Bauform, konstruktivistisch war auch das Bildungsideal. Denn dieser neue sozialistische Mensch sollte ja erst noch erschaffen und nach und nach ganz neu zusammengesetzt werden. Zu dessen „Aus“-Bildung zählte neben der Agitprop auch das neue Wohnen. Moissei Ginsburg und Ignati Milinis forderten nicht nur die Befreiung der Frau von der Hausarbeit (und die Abschaffung der Küche), sondern auch eine gänzlich neue Lebensweise für den wenigen, privat verbleibenden Alltag. Und weil die Kleinfamilie aus Vater, Mutter und Kind nun mal den Kern jeder bürgerlichen Gesellschaft bildet und Küche und Kinderzimmer die baulichen Voraussetzungen sind, galt es mittels neuer Wohnformen einen gänzlich neuen und unbürgerlichen Menschen zu erschaffen. Das Narkomfin-Kommunehaus am Moskauer Gartenring gilt bis heute als eines der wichtigsten Projekte des Konstruktivismus und der Moderne in Russland. Das ideale Konzept des Kommunehauses in der „Ausbaustufe F“ sah die völlige Auflösung der Familie und Vergesellschaftung des Menschen vor. Der sowjetisch gebildete Mensch benötige deshalb auch keine private Küche mehr und kein Kinderzimmer für den Nachwuchs. Gekocht, gegessen und erzogen wurde in der Gemeinschaft. Die private Wohnung diente allein dem Schlaf. Das Narkomfin galt deshalb auch als Projekt des Übergangs, denn es bot noch private Badezimmer. Die Kommunehäuser wurden zwar als ideales Mittel zur Bil­dung des neuen sowjetischen Menschen entwickelt, fielen dann jedoch der Neuausrichtung unter Stalin architektonisch zum Opfer.

Statt neue Formen zu vermitteln, nutzten Stalin und auch Hitler vielmehr das bereits erlernte bauliche Bildungswissen breitester Bevölkerungsschichten aus. Der Neoklassizismus und der Neohistorismus ihrer Bauten gehörten schließlich zum Fundus bereits gelernter und vorhandener architektonischer Bilder in den Köpfen der Bevölkerung und konnten problemlos decodiert werden. Derlei Rückgriffe sind unabhängig von der politischen Ausrichtung. Sogar der britische König Charles forderte bekanntlich (als er noch Prince of Wales war) eine Rückbesinnung auf tradierte, gelernte Bauformen.

Postmoderne und Bildung
Eine architektonische Gegenbewegung zur Dominanz der Moderne war die Postmoderne der 1970er- und 1980er-Jahre. Sie hatte sich vorgenommen, mit der Gestaltung ihrer Bauten entschlussfähig zu allen Bildungswelten zu sein. Nicht mehr nur einzelne architektonisch hochgebildete Gruppen sollten verstehen, was gebaut wurde. Möglichst breite Bevölkerungs- und Bildungsschichten sollten positiv angesprochen werden – allerdings mit gelegentlich fragwürdigen Kompositionen und letztlich ohne nachhaltigen Erfolg in der Architekturausbildung. Die Stuttgarter Neue Staatsgalerie war eines der Vorzeigeprojekte. Ein Kunstmuseum zählt zu den klassischen Bildungsbauten – und konnte zuvor nur durch Menschen mit entsprechend bürgerlicher Bildung decodiert werden. Die Staatsgalerie war der Versuch, Architektur und Museumsinhalt auch Menschen zugänglich zu machen, deren Bildungserfahrungen sich nicht mit jenen der klassischen Moderne decken. Stattdessen wurden architektonische Mittel gewählt, die möglichst vielen aus möglichst vielfältigen Gründen Zugang zur Architektur als Kunst verschaffen.

Partizipation und Bauen
Als Gegenbeispiel derartiger Bildungs-Bauten könnten die wenigen Projekte des partizipatorischen Bauens gelten. Die Demokratisierung des Entwurfsprozesses würde die vorangegangenen Thesen vom Kopf auf die Füße stellen. Nicht die Architektur schafft den Rahmen, innerhalb dessen sich der Mensch mit seiner Persönlichkeit in vorgegebener Weise ausbildet. Im Gegenteil: Die bereits gebildeten Persönlichkeiten schaffen als künftige Bewohner und Bewohnerinnen den architektonischen Rahmen, der für sie am besten geeignet ist – ganz davon abgesehen, dass dies natürlich ein tiefer Eingriff in das Selbstverständnis des Architekturberufs ist und interessante Fragen bezüglich der Abrechnung von Entwurfsleistungen aufwirft. Im Falle eines Mehrfamilienhauses entstehen dadurch langwierige basisdemokratische Prozesse. Im Falle des Einfamilienhauses können die zweifelhaften Resultate dieser Selbstermächtigung der Auftraggeberschaft seit Jahrzehnten in den Neubaugebieten des Landes begutachtet werden. Dort steht der Architektur gewordene Ausdruck der Bildungspersönlichkeiten verschiedenster Besitzerinnen und Besitzer. Und für die Schaffung dieser architektonischen Bildung war nun mal weniger das Bauhaus in Dessau zuständig, sondern vielmehr das Bauhaus im örtlichen Gewerbegebiet.

Heterogene Bildungsmodelle
Die Bauten in den Vorstädten sind letztlich Beweis für den Bildungsstand all jener, die sich ein Eigenheim leisten können – und zugleich sind sie Nachweis höchst heterogener, parallel nebeneinander existierender Bildungsmodelle. Dort steht das industriell hergestellte Fertighaus in später Bauhaus-Tradition für die Studienrätin mit Hauptfach Deutsch und Nebenfach Bildende Kunst. Und direkt daneben zeugt das mit Säulen und Erkern bewehrte Privat-Kastell vom Aufstieg des Groß- und Einzelhandelskaufmanns ins mittlere Management. Das bäuerliche Bauformen imitierende Einfamilienhaus gleich daneben simuliert der jungen Familie eine ländlich heile Welt. So heterogen diese Architektur gewordenen Bildungsrealitäten schon am Rande von Gütersloh, Heidenheim oder Chemnitz existieren, so chaotisch wirkt dagegen das Universum der globalisierten Realitäten und Architektur gewordenen Bildungsbauten im urbanen Kontext.

Captain Kirk brauchte weiland noch Warp-Antrieb, um sein Raumschiff Enterprise in „neue, nie zuvor gesehene Galaxien“ zu steuern. Das ist inzwischen nicht mehr nötig. Schon im Nachbarbezirk, in der Seitenstraße, gleich ums Eck oder womöglich in der nächsten Etage gibt es für viele Menschen nun schon gänzlich Neues und sicher wenig Bekanntes zu sehen und erleben.

Die bereits erwähnte Spore Initiative in der Berliner Hermannstraße steht mit ihrem biokulturellen Ziel und der daraus entstehenden Bildungsarchitektur in einem solchen hoch verdichteten Kiez: Das von ihr vertretene Bildungsideal trifft auf alteingesessene Berliner Kleinbetriebe und Familien, eine migrantische Bevölkerung, linkes Bildungsbürgertum, türkische Einzelhandelsbetriebe, Koranschulen und kirchliche Kindergärten.

Architektur als Bildungsklammer
Waren die vormaligen Bildungsideale und die damit verbundenen Bildungsbauten noch zeitlich oder zumindest räumlich voneinander getrennt, dann ist diese Unterscheidung nun aufgehoben. Unterschiedlichste Bildungsideale und die damit verbundenen Bau- und Lebensformen existieren in unmittelbarer Nachbarschaft.

Vor 56 Jahren forderte Willy Brandt den durch Bildung urteilsfähigen Bürger, der sich sozial verhalten kann. In heterogenen und vielfältiger werdenden Gesellschaften mit parallelen Bildungswelten werden Bauten für die Bildung, die dies vermitteln und als Klammer fungieren, immer wichtiger. Eine allgemein gültige Bildung, die in allgemeinbildenden Schulen vermittelt wird, öffentliche Bildungsbauten, private Bauten für die Bildung und vor allem eine allgemein verbindliche Architektur können hier noch als Klammer dienen, damit eine vielfältige Welt auf gemeinsamer Basis bestehen bleibt – und nicht in ihre Einzelteile zerfällt.


Dr. Dietmar Danner
geboren 1959 in Oberndorf am Neckar, 
ist ausgebildeter Tageszeitungsredakteur, studierte Architektur und wurde mit einer Arbeit über Geschmacksbildungsprozesse in der Architektur pro­moviert. 25 Jahre arbeitete er als Redakteur bei verschiedenen Design- und Architekturzeitschriften – einen Großteil davon als Chefredakteur / Verlags­leiter von AIT und xia. 2013 verabschiedete er sich in die Selbstständig­keit, gründete mit Architect’s Mind eine Kommunikationsagentur, veranstaltete weltweit Kongresse und Workshops. Seit 2022 befindet er sich im Ruhestand und ist als freier Autor und Berater tätig.

Dr. Dietmar Danner
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