Was für ein Glück, dass Daniele Kihlgren eines der schönsten Bergdörfer der Abruzzen besucht hat und dem fast verlassenen Ort neues Leben einhauchte. Heute sind hier Menschen aus aller Welt zu Gast.
Wie kommen Sie dazu, in ein kleines, fast verlassenes Dorf in den Abruzzen zu investieren?
Es gibt in Italien rund 1500 (fast) verlassene Dörfer. Viele davon sind architektonische Perlen mit langer Geschichte. Auf einer Motorradtour kam ich an Santo Stefano di Sessanio vorbei, und mir blutete das Herz, den Zerfall sehen zu müssen. Die Idee, das Dorf mithilfe des Tourismus zu revitalisieren, kam mir recht schnell. Sie war nicht neu, aber bis dahin auch noch nicht populär.
Wie riskant war das Investment damals?
Jeder, wirklich jeder – von Freunden, über Beratern bis hin zu den Bewohnern Santo Stefano di Sessanios – hielt mich für verrückt und riet mir dringend davon ab, hier zu investieren. Aber manchmal muss man ein bisschen verrückt sein, um Träume zu verwirklichen. Ich war von der Idee überzeugt, und der Erfolg gibt mir heute zum Glück recht.
Wie ging es dem Dorf zur Zeit des Investments?
Von einst 1400 sank die Einwohnerzahl im Laufe der Zeit auf gerade einmal 70. Die leer stehenden Häuser wurden nicht mehr gepflegt und waren dem Verfall preisgegeben. Rund ein Drittel der Häuser habe ich gekauft, daraus zum einen 27 Hotelzimmer gemacht, einige aber auch saniert und als Ferienhäuser verkauft.
Wie funktioniert das Konzept der Albergo Diffuso?
Eine Albergo Diffuso ist ein Hotel, dessen Zimmer sich auf viele verschiedene, voneinander unabhängige Gebäude verteilt. Wir haben den Anspruch, dass den Gebäuden ihre Geschichte auch nach einer Renovierung anzusehen ist. Zwar haben sie nun alle Annehmlichkeiten eines modernen Zimmers wie Fußbodenheizung, moderne Bäder und WLAN, doch die prägenden Spuren der damaligen Besitzer sind weiterhin sichtbar, die Identität, das Unperfekte bleibt erhalten. Diese Authentizität macht den Charme der Gästezimmer aus.
Was hat sich seitdem gewandelt?
Es ist wieder Leben eingezogen. Durch den Erfolg der Albergo Diffuso sind natürlich wieder Menschen angezogen worden, die hier erneut Arbeit finden oder lohnenswerte Geschäfte tätigen können. Einige weitere leer stehende Häuser sind nun private Ferienhäuser, die rege genutzt werden.
Welchen Einfluss hatte das schwere Erdbeben von 2009 auf Santo Stefano di Sessanio?
Das Dorf hat den Vorteil, auf einer massiven Steinplatte zu stehen. Auch sind viele der Häuser erdbebensicher saniert. Größere Schäden gab es tatsächlich nur an einem Medici-Turm, dessen ehemals hölzerne Decken durch Betondecken ersetzt wurden, sodass die Mauern dieser zusätzlichen Last während des Bebens nicht standhalten konnten.
Wie ist das gestalterische Konzept?
Wir orientieren uns an der Arte Povera, der „Armen Kunst“. Im kunsthistorischen Sinne geht es hier vor allem um die Einfachheit der Materialien. Wir übernehmen das für unsere Einrichtung. Bis auf wenige Dinge wie die modernen Bäder mit Applikationen von Philippe Stark ist alles authentisch. Dafür haben wir mit einem volkskundlichen Museum zusammengearbeitet, um zum Beispiel fehlende Möbel nicht neu kaufen zu müssen, sondern auf alte, schon damals in vergleichbaren Räumen genutzte Tische und Stühle zurückgreifen und sie restaurieren zu können.
Lässt sich das Konzept leicht adaptieren?
Die Idee der Albergo Diffuso hat sich verbreitet. Nicht nur in Italien. Natürlich braucht es Enthusiasmus für die Sache und den Willen, mehr als Geld zu investieren. Denn alte Dörfer zu revitalisieren ist ein umfassenderes Konzept, als ein paar Gästezimmer aufzubereiten. Mehr als bei anderen Projekten müssen die verschiedensten Interessen berücksichtigt und mit eingebunden werden.
Welche Sehenswürdigkeiten oder Aktivitäten in der Umgebung sollten sich Gäste nicht entgehen lassen?
Es lohnen sich auf jeden Fall Ausflüge zur Rocca Calascio, einer kleinen, aber einst wehrhaften Burg nur wenige Kilometer von Santo Stefano di Sessanio entfernt. Ebenfalls sehenswert ist die Grotta di Stiffe. Wer lieber ein Museum besuchen will, ist im Museo Nazionale d’Abruzzo in L’Aquila gut aufgehoben. Einen Ausflug ist auch die Stadt Sulmona wert, die allerdings eine Stunde Fahrtzeit entfernt ist.
Daniele Kihlgren
geboren 1966 in Mailand
schloss sein Studium der Humanwissenschaften und Psychologie zwar mit Auszeichnung ab, konnte sich aber auf das akademische Geschäftsleben nie so richtig einlassen. Stattdessen rief er die Projekte „Sextantio Ospitalità Diffusa“ und „Sextantio Restauri Italiani“ ins Leben, für die er 2016 von der Universität Tor Vergata in Rom wegen seines kulturellen und unternehmerischen Wertes mit einem PhD Honoris Causa ausgezeichnet wurde. Ein weiteres Projekt treibt Daniele Kihlgren in Afrika voran: Dort geht es unter anderem um den Bau eines Kinderkrankenhauses im Kongo und ein Krankenversicherungsprojekt für Arme in Ruanda. 2019 wird er von der Zeitschrift Condé Nast Traveller in die Liste der 25 einflussreichsten Persönlichkeiten aufgenommen, die die Art des Reisens verändert haben. Im Mai 2022 ruft er das Hüttenprojekt auf der Insel Nkombo im Kivusee in Ruanda ins Leben.